Offene Briefe an Montessori

Liebe Frau Montessori!
"Kinder sind Gäste ..."

sagten Sie eins so schön. Gäste die eines Tages, wie durch ein Wunder, aus dem Nichts zu uns kamen. Und unser Leben veränderten. „Unsere“ Kinder gehören aber nicht uns, sie sind nicht unser Eigentum. Sie sind eben auf der Durchreise, und eines Tages möchten sie auch weitergehen.
Kinder sind Gäste...
Aber keine üblichen Gäste. Sie sind Gäste, die unseren Kleiderschrank ausräumen, Gäste, die unsere Couch mit Filzstift anmalen, die das Butterbrot auf den Boden schmeißen, die Löcher in unseren Vorhang bohren und die Seiten in unseren Büchern anmalen und wenn wir weniger Glück haben, sogar ausreißen. 
Gäste, die mit uns zusammenleben.
Die unser Leben verändern.
Uns verändern.
Und dann auf ihrem igenen Weg gehen.

"... Gäste, die nach dem Weg fragen."

Durch Sie, Frau Montessori, habe ich gelernt ein Kind mit anderen Augen zu sehen. Es zu verstehen. Warum es zu Weinen anfängt, wenn ich ihm statt der roten die lila Jacke anziehen möchte. Warum es so oft stehen bleibt wenn wir spazieren gehen. Warum es unermüdlich daran arbeitet, alles was es bei anderen sieht, auch (nach) zu machen und zwar alleine. Sie haben mir all dies zum Verstehen gegeben und mir dadurch mehr Geduld gelehrt.
Kinder kommen zu uns, damit wir ihnen den Weg weisen, bevor sie gehen. Sie wollen nicht nur wissen, wie sie ihre Hosen anziehen sollen oder Fahrrad fahren sollen. Sie wollen nicht nur wissen, wie sie sich körperlich dieser Welt anpassen können, sie wollen auch lernen zu fühlen. Gefühle zu zulassen und zu zeigen. Denn diese gehören zum Sein. Ohne diese wären wir nur ein Schatten unseres Selbst. Und manchmal ist man wütend, manchmal überglücklich, manchmal hat man eben einen schlechten Tag und ja, manchmal fühlt man sich von anderen genervt.

Und wir können ihnen zeigen, dass man wütend sein kann ohne dabei jemanden körperlich weh zu tun. Dass man sich entschuldigen kann, wenn man jemanden verletzt und dass man einander auch trösten, helfen und aufheitern kann, wenn der andere das braucht. Und dass man auch ruhig nein sagen kann, wenn man etwas nicht will. Zeigen, wie man miteinander und mit Gefühlen zusammenleben kann so, dass dabei niemand seine Würde und Freiheit verliert. Wir sind ihre Vorbilder in Allem was wir tun und sagen. Auch in dem, dass man selbst die Verantwortung für seine eigenen Gefühle trägt.

So verstehe ich Ihre Worte und habe diesen Satz sehr in mein Herz geschlossen. Kinder sind auf der Durchreise, sie sind unsere Gäste die uns nach dem Weg zu ihrem Glück und ihrer Freiheit fragen. Und es liegt an uns, ihnen diesen Weg, den Weg in eine schönere Zukunft zu zeigen.

Hochachtungsvoll,
Anna

Liebe Frau Montessori!

Schon so lange her, dass ich Ihnen geschrieben habe, aber sehen Sie das als ein gutes Zeichen. Denn das bedeutet, ich komme im Großen und Ganzen zu recht. Dennoch habe ich heute das Bedürfnis Ihnen zu schreiben. Denn ich muss gestehen, manchmal fühlt man sich, wenn man sich bemüht Ihre Philosophie anzueignen, wie Eltern von einem anderem Planeten. Ja, wie Eltern vom Mars.

Wenn man sich die Zeit nimmt und sich mit all Ihren Gedanken auseinandersetzt, hat man das Gefühl, als würde eine Tür aufgehen. Als hätte man plötzlich den Schlüssel zum Verständnis des eigenen Kindes in der Hand. Man fühlt sich bereichert, aufgeklärt und erleichtert. Ich merke nicht nur wie wunderbar sich meine Kleine dadurch zu einem freien und selbstständigen Menschen entwickelt, sondern auch ich mich. Doch von Außen sehen viele nur eins: dass das Kind absolut im Mittelpunkt steht und unendlich verwöhnt wird.

Ich glaube, was bei vielen für einen bitteren Nachgeschmack sorgt, ist das Wort Pädagogik. Als wäre das heute im 21. Jahrhundert eine Art Krankheit. Eltern, die ihre Kinder im Sinne einer Reformpädagogik, mit gegenseitigem Respekt und durch gezielte Förderung großzuziehen versuchen, gelten als Öko-Fanatiker, arogante Akademiker oder Lehrer. Oder arogante Öko-fanatische Lehrer.

Dabei gibt es viele Menschen, die Sie nicht nur verstanden haben, sondern Ihre Botschaft auch weiter zu vermitteln versuchen. Und Menschen, die genau so fest daran glauben, dass eine gute Erwachsenen-Kind-Beziehung möglich ist, wenn man lernt miteinander richtig zu kommunizieren bzw. einander zu verstehen. Und ja, sogar ganz ohne Bestrafen und Loben. Zum Beispiel ein Däne namens Jesper Juul, der auch ganz bestimmt viele Ihre Gedanken kennt und diesen zustimmt. Und ich glaube, wären sie beide in einer Generation geboren, wären sie sogar gute Freunde gewesen.

Ich wünschte, Sie hätten ein ermutigendes Buch für Erwachsene geschrieben, die sich wie Marsmenschen fühlen. Oder noch besser, ein aufklärendes Buch für diejenigen, die einen als solche Marsmännchen bezeichnen. Denn wenn das Kind im Mittelpunkt steht, bedeutet dies keineswegs, dass es immer machen darf, was es will. Immerhin gelten in der Familie und auch in der Gesellschaft gewisse Regeln an welche sich alle halten müssen. Und sollte mal ein Teller voller Nudeln an der Wand landen, dürfen wir Eltern sehr wohl verärgert sein (ganz besonders bei Nudeln mit Tomatensauce). Und es bedeutet gewiss nicht, dass wir jede freie Minute mit dem Kind verbringen müssen. Und zwar jeden Tag. Denn auch Eltern haben Bedürfnisse.

Es bedeutet eher, dass wir versuchen dieses kleine Geschöpf zu verstehen. Warum es am Straßenrand die Kieselsteine aufsammelt anstatt weiter zu gehen. Warum es so viel Wert darauf legt, bei 30°C eine Haube anziehen zu wollen. Warum es nicht im Kinderwagen sitzen mag, warum es so viel Freude hat etwas auszuräumen und es zu verstehen, wenn es wütend wird oder Unfug im Schilde führt.
Es bedeutet liebevoll den Weg zu weisen ohne alle Stolpersteine aus dem Weg zu räumen, ohne es zum weitergehen zu drängen und ohne es auf diesem Weg zu tragen. Habe ich es richtig verstanden? Hätte ich nur die Möglichkeit gehabt dies mit Ihnen persönlich zu besprechen!

Alles Liebe,
Anna (vom Mars)

Liebe Frau Montessori! 

Heute ist es 61 Jahre und 4 Tage her, dass Sie von uns gegangen sind. Wobei das "von uns" nicht ganz stimmt, denn damals gab es mich ja noch nicht. In Ihren 82 Lebensjahren haben Sie etwas ganz Bewegendes ins Leben gerufen, etwas, was so vielen Pädagogen, Eltern und ganz besonders den Kindern überall auf der Welt unheimlich viel gegeben hat: Mehr Selbstvertrauen, Respekt, Würde und Freiheit!

Wenn man ein Kind auf seinem Lebensweg begleitet, weiß man allerdings: man braucht auch Geduld, gute Nerven und eine gute Portion gesunden Humor. Ohne diesen "überlebt" man die Erziehung kaum! Denn manchmal muss man als Kind auch Stolpersteine des Lebens bewältigen und das kann ziemlich an den Nerven zerren. Verstehen Sie, was ich meine?
Ich komme zum Punkt: Meine Tochter muss zurzeit so einen Stolperstein bewältigen. Sie merkt, dass die Welt sehr groß ist, dass es so vieles zu entdecken gibt und das sie durchs Gehen mobiler ist denn eh und je. Sie kennen diese Phase bei Kleinkindern bestimmt. Sie traut sich immer weiter weg von uns in die große weite Welt hinaus und ja, doch, das beunruhigt sie auch offensichtlich: sie klammert sich an uns auch gleichzeitig ganz, ganz, ganz fest. Da muss ja doch ein Zusammenhang bestehen?!
Und diese Wutanfälle, wenn etwas nicht so geschieht, wie sie es möchte... Gott im Himmel! ...

Manchmal bin ich dann ratlos und unsicher, wie ich auf dieses Verhalten reagieren soll? Also habe ich versucht auszumachen, was Sie mir wohl raten würden. Und wobei ich mir ganz sicher bin, Sie hätten mir als erstes geraten, gelassen und geduldig zu bleiben. Ja, das ist ein guter Rat, in gewissen Situationen allerdings eine echt große Herausforderung! Sie hätten mir auch höchstwahrscheinlich geraten, mein Kind genau zu beobachten um es besser zu verstehen. Und Sie hätten mir geraten, meinem wütenden und tobenden Kind in Augenhöhe zu begegnen und seine Gefühle zu verbalisieren.

Gelassenheit und Ruhe, Respekt und Verständnis sind wirklich beherzigende Ratschläge, auch wenn Sie manchmal verdammt schwer in die Tat umzusetzen sind. Was Sie mir aber auf jeden Fall noch gesagt hätten: "Setzen Sie ihrem geliebten Kind auch Grenzen! Denn ohne Grenzen ist man wie ein bodenloses Fass, wie ein einsames Schiff am Meer ohne Kapitän." Wie wahr!

Mit freundlichen Grüßen,
Anna

Liebe Frau Montessori!

Sie haben meine volle Bewunderung. Ehrlich! Immer wieder würde ich Ihren Weg wählen und gehen wollen, schon so oft halfen Sie mir ohne es zu wissen! Dennoch hätte ich da eine kleine Frage, die mich nicht in Ruhe lässt: Wieso ist die Sache mit dem Essen so mühsam? Ich meine, ich verstehe, dass der Lernprozess, wie man kultiviert und anständig isst, holprig und langwierig ist, aber so mühsam?

Was mir dabei jedes mal, wenn wir beim Esstisch sitzen, am schwersten aufs Herz drückt ist nicht der Appetit, der mir vergeht, auch nicht die Arbeit, alle Reiskörner wieder aufzupicken, nein, es ist der Gedanke, dass so viele Kinder auf der Welt Hunger leiden während ich den halbvollen Teller von meiner Tochter im Müll entsorgen muss. Egal wie wenig sie auf dem Teller hat, einen Teil lässt sie einfach liegen. Was soll ich tun? Wie soll ich meine Kleine dazu bringen, das Essen nicht zu verschwenden? Natürlich ist mir das bewusst, dass sie auch mit dem Essen herumexperimentieren möchte und tagtäglich springe ich über meinen Schatten und lasse sie auch beim Esstisch die Welt entdecken. Dennoch bedrückt mich der Gedanke, dass viele Kinder sich über das Essen, das da verschwendet wird freuen würden. Hätten Sie da, wie schon so oft in anderen Situationen, einen Rat für mich?

Mit freundlichen Grüßen,
Anna