01.11.2017

Über das erste Schreiben und Lesen - und warum Eltern dabei eine wichtige Rolle spielen


Eine der häufigsten Fragen in unserer FB-Gruppe handelt über das erste Schreiben (und Lesen). Was können Eltern tun, wenn Kinder bereits im Kindergartenalter oder gar noch früher Interesse an Buchstaben zeigen? Schon seit langem ist es mir ein Anliegen, etwas zu diesem Thema zu schreiben, daher diesmal ein kleiner Einblick, wie Kinder im Kinderhaus Schreiben und Lesen lernen - und warum Eltern dabei eine unglaublich wichtige Rolle spielen.

Das Konzept, wie Kinder das Schreiben und Lesen bei Montessori spontan erlernen ist genial. Weil es Kindern ermöglicht, sich diese recht komplexen Prozesse im eigenen Tempo und aus eigenen Willen anzueignen, ohne dass sie jemand dazu drängen würde. Doch es ist ein Missverständnis, dass Schreiben lernen bei den Sandpapierbuchstaben beginnt.


Bevor Kinder im Kinderhaus mit Sandpapierbuchstaben arbeiten, machen sie etwas ganz anderes und wirklich wichtiges: sie lautieren. Und sie lieben es! Dazu gibt es auf den Regalen Körbchen und hübsche Schachteln mit lauter spannenden Dingen darin, die junge Kinder magisch anziehen. Und wenn dann den Kindern auch noch gezeigt wird, was sie mit diesen Gegenständen machen können, ist die Begeisterung perfekt. So wird genau gelauscht, welcher Laut wo im Wort zu hören ist und die Gegenstände dementsprechend gepaart und angeordnet. Diese Arbeit ist wirklich wesentlich, denn sie ermöglicht es Kindern, die Laute, aus denen Wörter bestehen, ganz bewusst wahrzunehmen.


Was ich auch häufig im Internet sehe, sind Sandpapierbuchstaben fürs erste Schreiben in großen Blockbuchstaben. Aber auch das ist ein Missverständnis, denn Maria Montessori postulierte genau das Gegenteil: Kleinbuchstaben und noch dazu in Kursiv! Diese großen Blockbuchstaben sind zwar optisch schlichter, aber zum Schreiben lernen nicht wirklich sinnvoll, denn, wie auch Maria Montessori schrieb: "... muss sich das Kind danach nicht die Mühe machen, die Blockschrift wieder zu vergessen, um Kursivschrift zu lernen? Wäre es nicht einfacher gewesen, mit letzterer zu beginnen?" (Die Entdeckung des Kindes. Freiburg im Breisgau 1969)

Es klingt vielleicht zuerst etwas ungewöhnlich, immerhin haben die meisten Menschen aus der Regelschule andere Erfahrungen mitgebracht, aber mit den schwungvollen Kleinbuchstaben zu beginnen macht wirklich Sinn. Nicht nur, weil unsere geschriebene Sprache zu 90% aus Kleinbuchstaben besteht, sondern auch, weil diese zu schreiben Kindern wesentlich leichter fällt - und sie so auch viel mehr Freude am Schreiben haben.


Dr. Montessori beobachtete Kinder, die ihre Hefte mit Großbuchstaben in Blockschrift vollgeschrieben hatten, also reihenweise K-s oder L-s, doch am Ende jeder Seite diese Buchstaben eher an C-s erinnerten. Ganz einfach, weil unsere Hände geschwungene Linien viel einfacher zeichnen können als Geraden.

Als Mathelehrerin in der Regelschule gelang es mir in all den Jahren nie, ein schönes Quadrat oder Dreieck ohne Hilfsmittel auf die Tafel zu zeichnen. Ich brauchte immer eines dieser großen Lehrer-Lineale dazu. Bis heute schaffe ich es nicht, ein perfektes Quadrat oder eine exakte Gerade auf ein Blatt Papier zu zeichnen, nicht einmal wenn dieses kariert ist. Eine gerade Linie ist wortwörtlich einmalig und für die Hand fast unmöglich zu zeichnen. "Beobachten wir die spontanen Zeichnungen von Kindern, wenn sie zum Beispiel auf dem Sand von Gartenwegen mit einem vom Baum gefallenen kleinen Ast Linien zeichnen: Wir sehen niemals kleine Geraden, sondern lange gebogene Linien, die auf verschiedene Weise miteinander verflochten sind. Die Mühe, die wir zum Erlernen des Alphabetes für notwendig erachten, ist ganz und gar unnatürlich und hängt nicht mit dem Schreiben, sondern mit den Methoden, es zu lehren, zusammen." (Maria Montessori: Die Entdeckung des Kindes. Freiburg im Breisgau 1969)


Allerdings gibt es neben den Lautierungsarbeiten und Sandpapierbuchstaben eine Fülle von anderen Materialien und noch mehr Darbietungen, die es Kindern im Kinderhaus ermöglichen, sich das Schreiben anzueignen. Was die Großbuchstaben betrifft, so werden diese den Kindern natürlich im Kinderhaus auch gezeigt, allerdings erst bei anderen Arbeiten, wenn Großbuchstaben auch wirklich Sinn machen.

Was das spontane Lesen lernen betrifft, so beobachtete Dr. Montessori, dass die meisten Kinder lange schreiben, bevor sie überhaupt lesen können. Aber geht das überhaupt? Schreiben vor dem Lesen? Als ich das zum ersten mal gehört habe, konnte ich mir das nicht wirklich vorstellen, wie das gehen könnte, doch jetzt nach meiner Ausbildung und besonders durch Julia wurde ich eines Besseren belehrt. Denn sie ist gerade dabei für sich das Lesen zu entdecken, obwohl sie bereits schreiben kann. Lesen ist komplexer als Schreiben, denn hier werden nicht nur die einzelnen Buchstaben nach Gehör hintereinander angereiht, sondern wiedererkannt und zu einem Wort zusammengesetzt (was lesen ja schlichtweg bedeutet). Der Schritt vom Schreiben zum Lesen ist jedoch nur noch klein und auch zum spontanen Lesen lernen gibt es im Kinderhaus zahlreiche Materialien und Darbietungen - und Pädagogen, die ganz genau wissen, wie sie Kinder bei diesen Prozessen begleiten können.


Aber können Eltern denn zuhause überhaupt was tun? Oh ja! Eine Menge! Und das, was wir als Eltern tun können, ist wesentlich!

  • Kinder von Anfang mit Sprache(n) umhüllen! Ihnen über ihre direkte Umwelt erzählen, ihnen vorsingen, Reime und Gedichte vortragen sowie vorlesen, vorlesen und vorlesen. Ich achte zudem auch sehr darauf, zu meinen Kindern deutlich, schön und in ganzen Sätzen zu sprechen.
  • Die Dinge beim Namen benennen. Ich habe mir bereits, als Julia noch ein Baby war angewöhnt, nicht "Wau-Wau" und nicht einmal nur "Hund", sondern "Dalmatiner" zu sagen, wenn wir einen sahen. Kinder absorbieren die Sprache mit so einer Leichtigkeit und wenn sie die wirklichen Namen der Dinge erfahren können, bereichert sie dies enorm!
  • Kinder nicht direkt korrigieren. Wenn Julia etwas grammatikalisch nicht ganz richtig sagt, korrigiere ich sie nicht direkt, sondern wiederhole einfach das Wort korrekt. (Ich habe schon geesst, Mama. - Ach, Du hast schon gegessen? Wunderbar!) So hat sie die Möglichkeit, das Wort grammatikalisch richtig zu hören, fühlt sich aber nicht von mir überfahren und hat weiterhin Freude an der Sprache.
  • Kindern Aufgaben zutrauen, die die Hände sinnvoll beschäftigen. Kinder lieben Aufgaben, bei welchen sie ihre Hände und Bewegungen perfektionieren können. Aufgaben im Haushalt (und im Garten) sind nicht nur wunderbar um die Hände für das Schreiben vorzubereiten, sondern genau das, wonach bereits junge Kinder suchen. 
  • Auch bei den Spielsachen achte ich auf Einzelheiten. So bevorzugte ich damals, Julia Puzzles mit großen Griffknöpfen zu kaufen oder bot ihr Materialien an, wo sie die Hände sinnvoll einsetzen konnte.
  • Einkaufszettel oder gar meine Notizen schreibe ich immer mit der Hand. Mir ist wichtig, dass meine Kinder mich auch mit der Hand schreiben sehen und erleben, dass Gedanken mit der Hand auf Papier gebracht werden können. Ist das nicht eine unglaubliche Errungenschaft?
  • Wir spielen bis heute gerne "Ich sehe was"-Spiele, besonders in der U-Bahn um die langen Fahrten erträglicher zu machen. Wir spielen das Spiel dann etwas anders und lassen einander nach Gegenständen oder Farben raten, die einen bestimmten Laut am Anfang oder in der Mitte oder am Ende des Wortes haben (Ich sehe was - und es beginnt mit "k"...). Das macht wirklich Spaß!
  • Auch spielen wir gerne auf dem Rücken zeichnen, wobei wir einander auch Buchstaben oder Zahlen erraten lassen.
  • Erstlesebücher für Leseanfänger. Als Julia anfing zu lesen, besorgte ich ihr passende Bücher mit weniger Text, dafür aber mit größeren Buchstaben, so war sie nicht überfordert.
  • Boxen und Haken in der Wohnung beschriften, wie etwa die Kiste mit den Hauben und Schals oder den Haken, wo der kleine Besen hängt. 
  • Ich zeigte Julia immer wieder Handarbeiten, wie Stricken mit einer Strickgabel oder Weben am Webrahmen. Solche Handarbeiten sind nicht nur sinnvolle Aufgaben für die Hände, sondern auch meditativ und kreativ.
  • Das Schreiben und Lesen als spannend und als unglaubliche Errungenschaften vermitteln. Daher schreibe ich Julia kleine, liebevolle Botschaften auf Zettel, die ich ihr irgendwo verstecke. Mal in ihrer Jackentasche, mal auf ihrem Sitz beim Esstisch oder auf ihrem Kissen im Bett. Nicht nur, damit sie Lesen und Schreiben als etwas nützliches erlebt, sondern auch als etwas schönes, als ein Geschenk.
  • Einige Lautier- und andere Spiele sind auch zuhause umsetzbar und machen Kindern, die Interesse an Buchstaben haben, garantiert eine Freude. Diese Ideen möchte ich euch in einem der nächsten Beiträge unbedingt zeigen.

11 Kommentare

  1. Danke für diesen sehr interessanten Beitrag! Ich habe noch nie darüber nachgedacht, wie viel sinnvoller es tatsächlich ist, mit den Kleinbuchstaben der Schreibschrift zu beginnnen. Wenn man erst einmal darüber nachdenkt, ist es so logisch!
    Lieben Gruß!

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  2. Das ist echt interessant. Mein Sohn (5,5 Jahre) hat noch kein großes Interesse daran, lesen oder schreiben zu lernen. Manchmal soll ich ihm was aufschreiben, dann schreibt er es nach, aber das war es dann auch. Er rechnet und zählt einfach lieber. Er kann schon bis 1000 zählen und multipliziert. Weil er das selber so wollte, weil es ihn interessiert. Schlimm ist, dass in vielen Grundschulen hier schon davon ausgegangen wird, dass die Kinder lesen und schreiben können, wenn sie in die 1. Klasse kommen. Ich werde das aber auf keinen Fall erzwingen. Aber ich mache mal ein paar Spiele von dir nach, vielleicht hilft das ja.
    LG Steffi

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  3. Danke für diesen Beitrag! Besonders beherzt hat mich der Anreiz, kleine Botschaften für das Kind zu verstecken. Das werde ich definitiv nachmachen :)

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  4. Liebe Anna, Danke für den Beitrag! Welche Erstlesebücher kannst du empfehlen?

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  5. Ein interessanter Beitrag.
    In den meisten Ländern der Welt wird allerdings gar keine Schreibschrift mehr gelehrt, auch in Deutschland gehen die Grundschulen dazu über.
    Meine Tochter geht in die erste Klasse und ihr Jahrgang ist der erste, der auch keine Druck-und Schreibschrift, sondern nur mehr eine sogenannte Grundschrift lernt...
    Viele Grüße
    Maria

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    1. Da sind sich die einzelnen Bundesländer und selbst Schulen leider nicht einig. In Baden-Württemberg gab es zum Beispiel eine Grundschrift-Erprobungsphase an einigen wenigen Schulen, jetzt hat Kultusministerin Eisenmann jedoch festgelegt, dass Schulen nur zwischen Lateinischer und Vereinfachter Ausgangsschrift wählen dürfen. Die Diskussion, ob das sinnvoll ist, überlasse ich lieber den Experten. Ich warte jetzt einfach ab, bis unsere Tochter sich für Schrift interessiert (da ist es noch lange hin) und frage dann im Zweifelsfall einfach kurz bei der Grundschule nach, welche Schrift sie verwenden.

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  6. Ein sehr schöner Beitrag mit interessanten Tipps. Mein Sohn hat sich früh für Buchstaben und Lesen interessiert. Ihm habe ich kleine Botschaften als Schnitzeljagd im Haus versteckt z.B. ein Zettel mit dem Wort Bett oder Bad, wo er dann einen Zettel mit einem erneuten Hinweis auf ein Versteck fand. Er hat großen Spaß daran :-) Zur Zeit bin ich auf der Suche nach schönen Erstlesebüchern mit wenig Text. Kannst du Bücher empfehlen?
    Liebe Grüße

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  7. Hallo,

    vielen Dank für den tollen Beitrag. Ich habe 2 Schulkinder (1. und 3. Klasse). Mein ältester Sohn wird Legasthenie haben. Noch ist es nicht getestet. Ich übe mit ihm viel und wir probieren verschiedene Strategien aus. Gerade war er auf die Idee gekommen, in meiner Schrift ( Schreibschrift) selber zu schreiben. Hier wird blöderweise die Grundschrift nur gelehrt und die Kinder pressen mit viel Kraft Druckbuchstaben ins Papier. Jedenfalls kann mein Sohn mit der Schreibschrift etwas besser seine Legasthenie kompensieren oder wie man auch sagen kann. Er macht dann etwas weniger Fehler im Diktat. Nach dem Beitrag hier, bin ich bestärkt, das es eine gute Idee ist. Druckbuchstaben sind nicht einfacher zu schreiben. Vielen Dank!

    Liebe Grüße

    Katja

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  8. Was man dennoch bedenken sollte: In Schreibschrift sind d,b,p,q sich sehr ähnlich. Zudem ist es in dem Alter noch normal Buchstaben spiegelverkehrt zu schreiben. Das kann echte Verwirrung stiften.

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    1. Liebe Egoliquida! Bei der Druckschrift ja. Bei der Schreibschrift nicht, denn "g" bekommt einen Schleifen, "p" aber nicht, "b" schaut auch ganz anders aus ohne "Bauch" und ist dem "d" kein bisschen ähnlich. ;) LG, Anna

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