02.08.2014

Die Krise des Ungehorsams


Manche Tage sind beschwingt einfach, manche aber unglaublich schwer mit meinem 30 Monate alten Kind. Mir ist natürlich bewusst, dass Julia gerade in dem Alter ist, wo Autonomie mit lauter Großbuchstaben geschrieben wird und das es eben dazugehört, dennoch: es ist von Zeit zu Zeit recht anstrengend.

Die banalsten Sachen, die bisher tadellos funktionierten, sorgen plötzlich für heftigen Widerstand. Sie sagt 'Nein', 'Ich will nicht' und 'Doch' und will um jeden Preis ihren eigenen Weg gehen. Sie widerspricht in einem Ausmaß, den ich bislang nicht kannte. Jedes Ablenkungsmanöver ist wie eine Beleidigung für sie, sie beharrt umso mehr auf ihrer Meinung.

"Die dritte Entwicklungskrise (von 0-3 Jahren) macht das Kind mit 30-36 Monaten durch. Sie nennt sich die 'Krise des Ungehorsams'. An ihr zeigt sich, dass das Kind einen weiteren großen Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit und Menschwerdung getan hat. Die Krise beginnt damit, dass das Kind auf praktisch alle Vorschläge, die wir ihm machen, mit 'nein' antwortet und dadurch demonstriert, dass es keineswegs immer bereits ist, uns einfach so zu gehorchen."

Es kam so plötzlich, dass ich mit ihrem "neuen" Verhalten völlig überfordert war. Eine ganz Weile wusste ich nicht recht, was los ist.

"Diese Veränderung in seinem Verhalten kann sehr plötzlich auftreten und kommt oft so überraschend, dass manche Eltern ihr Kind kaum noch wiedererkennen. Tatsächlich verhält sich das Kind jedoch nicht aus reiner Widerspenstigkeit so, sondern weil es uns zeigen will, dass es nicht länger wie ein kleines Kind behandelt werden möchte, welches jeder Aufforderung der Eltern bedingungslos gehorchen muss. Das Kind ist jetzt in einem Alter, in welchem es ernst genommen und an Entscheidungen beteiligt werden möchte, die es betreffen. Dabei handelt es sich noch nicht einmal um Entscheidungen von großem Gewicht." 

Die ganz großen Veränderungen verbargen sich in ganz kleinen alltäglichen Situationen. Plötzlich bestand sie darauf, ausschließlich in ihrem Bett zu schlafen, und wenn sie in der Nacht unruhig schlief oder gar wach wurde und wir ihr anboten, zu uns ins Bett zu kommen, verweigerte sie es wehement. Bisher war das genaue Gegenteil der Fall.

Das Zähneputzen wurde von einem Tag zum anderem ein Problem. Bisher funktionierte alles reibungslos, wir putzten oft gemeinsam die Zähne, mal putzte sie meine während ich ihre putzte oder sie putzte ihre alleine während sie sich im Spiegel betrachtete. Sie weiß, wie man Zähne putzt. Jetzt aber weigerte sie sich und ich stand eine gute Weile ratlos vor dieser Tatsache. Ich weiß, dass sie noch längst nicht soweit ist, zu verstehen warum Zähneputzen so wichtig ist und was die Folgen des Nichtputzens sein könnten. Doch sie dazu zu zwingen wäre sinnlos gewesen und hätte nur zu Machtkämpfen geführt.

"Nun fangen sie an, Machtkämpfe mit uns auszutragen, die wir Erwachsenen nur scheinbar gewinnen, wenn wir dem Kind unseren Willen aufzwingen. In Wirklichkeit nehmen wir dem Kind damit die Chance, sich reifer und von seiner Umwelt anerkannt zu fühlen. Wir solltem ihm das Gefühl vermitteln, dass es wichtig ist und zu nichts gezwungen wird, was es nicht tun will; dass seine Meinung zählt und dass es genau wie wir am Leben in seiner Umwelt teilnehmen kann.

Zu wirklicher Zusammenarbeit kommt es nur, wenn diese freiwillig geschieht. Unser Ziel ist dabei, einen Menschen hervorzubringen, der sich geachtet fühlt und deswegen auch andere Menschen und die Umwelt achtet und der auch bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Nur derjenige kann eine gute Entscheidung treffen, der gelernt hat, die Folgen seiner Entscheidung abzuwägen."

Zähneputzen ist dennoch wichtig. Mir schwebte nicht vor, sie Erfahrungen mit Karies machen zu lassen, aber die Verantwortung wollte ich ihr trotzdem überlassen. Am Abend, als sie sich weigerte die Zähne zu putzen, sagte ich kein Wort und verzog keine Miene. Am nächsten Tag wollte sie, wie gewohnt, ihren geliebten Kakao in den Einkaufskorb im Supermarkt legen, doch ich hockte mich zu ihr um mit ihr in Augenhöhe zu sein und sagte ruhig, dass ich ihr den Kakao leider nicht kaufen kann. Kakao macht die Zähne kaputt, wenn diese nicht geputzt werden. Sie überlegte, nahm aber mein Argument an und legte den Kakao wieder zurück ins Regal. Ich verlor kein Wort mehr darüber und am Abend putzte sie ihre Zähne ohne Widerstand.

"Das Kind auf diese Weise mit Respekt zu behandeln, es ernst zu nehmen und mit ihm zusammenzuarbeiten stellt den einzig richtigen Umgang in jener Krise des Ungehorsams dar, die besser 'Krise des nach Achtung verlangenden Ichs' genannt werden sollte. Eltern sollten glücklich über diese Krise sein, denn durch sie erreicht das Kind eine höhere Stufe der Entwicklung und gewinnt an Alter, Weisheit und persönlicher Reife hinzu."

Obwohl ich mich natürlich sehr freue, dass sie diesen Entwicklungschritt macht, genießen kann ich es nicht immer. An manchen Tagen testet sie, ob sie wirklich diese Verantwortung tragen darf und sagt schon voraus, sie putzt sich nicht die Zähne und verzichtet lieber auf Süßigkeiten. Ich denke aber, diese Erfahrung, Verantwortung zu tragen, ist genau das wonach sie so sehr strebt.


Das Buch Das Kind verstehen von Silvana Quattrocchi Montanaro (hier mit Leseprobe) aus dem ich zitiert habe, half mir enorm dabei wieder Fuß zu fassen, meine Tochter besser zu verstehen und achtsam zu begleiten. Das Buch kann ich wirklich wärmstens empfehlen. Seitdem ist bei uns wieder ganz viel Ruhe eingekehrt. Es liegt nicht an ihr, denn Julia geht ihren Weg der Entwicklung unbeirrt weiter. Es liegt an mir.

3 Kommentare

  1. Danke für diesen Artikel. Mir ging es so, dass ich meine Tochter kurz vor ihrem 3. Geburtstag kaum noch wieder erkannte. Es hängt also doch nicht alles daran, dass sie einen Bruder bekommen hat :-).
    Wie siehst du/bzw. die Autorin dann Themen wie das Nicht-ins-Bett-gehen-wollen oder Nicht-mehr-Aufräumen-wollen? Diese Themen betreffen nicht nur das Kind sondern auch mich und mir ist es wichtig auch mal eine Stunde am Abend für mich zu haben und das in einer etwas aufgeräumteren Wohnung als unter Tags.
    Würde mich über eine Antwort freuen!
    LG
    Petra

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  2. Es ist doch schön, wenn man ein bisschen darauf vorbereitet ist und die Ursachen und Hintergründe kennt - DANKE für den tollen Beitrag (mein Söhnchen ist jetzt 26 Monate alt .. ich habe diese Phase also noch vor mir).

    :-)

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  3. Ein wirklich schöner Beitrag, vielen Dank dafür!
    Gerade das Beispiel mit dem Zähneputzen ist vermutlich recht prominent in dem Alter. Und auch wenn ich mich üblicherweise mit den Montessori-Gedanken wohl fühle, so muss ich zugeben: in dem Punkt gab es bei uns keinen Handlungsspielraum. Zähne werden geputzt, auch wenn man keine Lust dazu hat - sie hat das sehr schnell akzeptiert.

    Den Link zu setzen, (nur) Süssigkeiten seien schlecht für die Zähne, erachte ich nämlich als fragwürdig (wir hatten ebenfalls erwogen, dergestalt an die Sache heranzugehen); aber das stimmt ja so nunmal nicht. Sie kann die Thematik nicht überblicken, die Folgen nicht abschätzen, deshalb sehe ich hier, wo es um die Gesundheit geht, uns Eltern "an der Macht" (mal überspitzt ausgedrückt). Wenn ich sie fragen würde, ob sie Bock auf eine Impfung hat, würde sie sicher auch nicht fröhlich "ja" sagen, aber manche Dinge - auch die, die einem zuwider sind, die nerven - müssen halt manchmal sein.

    Und das - in sinnvollem Kontext - zu vermitteln, ist uns auch sehr wichtig.

    (Aber klar, bei Themen wie Kleiderauswahl, Spielzeug, ... gehe ich so nicht heran. Vielleicht werden die sehr wenigen Ausnahmen aber auch deshalb so gut akzeptiert?)

    Viele liebe Grüsse!

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